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Aua814: Fundtierverwaltung Landkreis Sigmaringen (1): Ein Blick in die Zukunft deutscher Tierschutz-Infrastruktur?

 

{TS-Kritik}

 

Die Deutschen rühmen sich ihres hohen Standards im Tierschutz. Zu recht? Zweifel sind angebracht.

Zum einen beklagen insbesondere die Tierrechtler seit Jahrzehnten unerträgliche Mängel in all jenen Tierschutzbereichen, die weit weg von Hund und Katze liegen: Nutztierhaltung, Tierversuche, Jagd und Co.

Zum anderen gibt es mindestens ein Land im Europa, das unter dem Aspekt Tierschutz Deutschland weit hinter sich lässt: die Schweiz!

Sicherlich: Fokussiert man sich auf die beiden Tierarten, auf die sich gefühlte 95 Prozent sogenannter Tierfreunde konzentrieren, nämlich auf Hunde und Katzen, gleicht man  dabei die Situation in Deutschland mit dem vom deutschen Auslandstierschutz missionierten Süd- und Osteuropa ab, dann mag das Eigenlob des hohen Tierschutzstandards plausibel sein.

Noch.

Doggennetz.de eröffnet heute die Artikelserie Fundtierverwaltung Landkreis Sigmaringen. Es ist nicht ein ganz neuer, aber ein neu akzentuierter Bereich der Doggennetz.de-Berichterstattung, der mit diesem regionalen Bezug auch eine weitere Zielgruppe ansteuert.

Fundtierverwaltung im Landkreis Sigmaringen ist kein exklusiv regionales Thema. Ganz im Gegenteil: Was sich hier an den Fundtieren vollzieht, könnte die düstere Zukunft im deutschen Tierschutz sein. Und so spricht diese Artikelserie nicht nur in der Region betroffenen Tierfreunde an, sondern sollte alle wachrütteln. Fundtierverwaltung im Landkreis Sigmaringen ist dann exemplarisch, wenn den an ihr dokumentierten Tendenzen und Entwicklungen nicht gegengesteuert wird.

 

Klassiker der Tierschutzinfrastruktur in Deutschland

Verantwortlich für den viel besungenen hohen Standard des Tierschutzes in Deutschland ist das flächendeckende Netz „klassischer“ Tierschutzvereine und der von ihnen betriebenen Tierheime quer durch die ganze Republik.

Das Attribut „klassisch“ bedarf der Erklärung, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Thema der Artikelserie steht: Unter klassischen Tierschutzvereinen versteht Doggennetz.de lokal/regional vernetzte und schwerpunktmäßig dort tätige Tierschutzorganisationen, die sich um den Tierschutz in ihrer Stadt, in ihrem Landkreis kümmern. Im günstigsten Fall betreibt ein solcher klassischer Tierschutzverein dann auch noch ein Tierheim vor Ort.

Die Mehrzahl dieser Art definierter klassischer Tierschutzvereine ist unter dem Dach des Deutschen Tierschutzbundes e. V. (DTB) versammelt. Nach DTB-Angaben sind das derzeit: 16 Landesverbände, 700 örtliche Tierschutzvereine mit mehr als 500 vereinseigenen Tierheimen und mehr als 800.000 Mitgliedern (Quelle).

Darüber hinaus gibt es einige „dachlose“ Tierschutzvereine sowie die Tierheime des Bund gegen Missbrauch der Tiere (bmt): bescheidene acht Stück (Quelle; S. 19).

 

Infrastrukturell kontraproduktiv: Auslandstierschutzvereine

Von diesen klassischen Tierschutzvereinen zu scheiden sind die so genannten Auslandstierschutzvereine. Deren Zahl lässt sich nicht einmal näherungsweise schätzen, dürfte aber gut und gern im höheren dreistelligen Bereich liegen.

Diese Organisationen sind fast ausschließlich im Ausland tätig, verfügen in der Regel über kein eigenes Tierheim und betreiben ihr Geschäft (und der Begriff darf wörtlich verstanden werden) überwiegend mit sogenannten und meist in keiner Weise qualifizierten Pflegestellen bundesweit. Diese überwiegend im Internet präsenten Auslandstierschutzorganisationen sind nicht lokal oder regional verwurzelt, nicht selten vor Ort noch nicht einmal bekannt. Als Ansprechpartner für Tierschutzprobleme vor Ort, für Fundtiere oder gar als Partner der Kommunen stehen sie nicht zur Verfügung. Stattdessen ziehen sie Vermittlungsplätze, Spenden, Manpower und Aufmerksamkeit von den klassischen Tierschutzvereinen ab.

Auslandstierschutzorganisationen leisten keinerlei Beitrag zur Tierschutz-Infrastruktur in Deutschland! Im Gegenteil: Nach Meinung dieser Redaktion sind sie mitverantwortlich dafür, dass die Stabilität und Qualität dieser Infrastruktur so bedrohlich leidet, dass ohne Korrekturen an dieser fatalen Entwicklung  für die BRD in zehn oder zwanzig Jahren rumänische Verhältnisse zu befürchten sind.

 

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Dem einen oder anderen Leser mag das Menetekel der „rumänischen Verhältnisse“ übetrieben vorkommen. Aber wer Gelegenheit hat, den durchschnittlichen Input an Fundkatzen im Landkreis Sigmaringen  zu besichtigen, weiß sehr wohl, was damit gemeint ist. In einem stark ländlich strukturierten Landkreis, der seit vielen Jahren auf funktionierenden Tierschutz verzichten muss, in dem Kommunalpolitiker das massive Katzenproblem nachhaltig in Abrede stellen und sich dabei des Applauses der in den Gemeinderäten sitzenden Landwirte und Jäger gewiss sein dürfen, in einem solchen Landkreis hoffen Katzen wie die obige vergeblich auf Erbarmen und Mitmenschlichkeit.

Foto: mngw (Landkreis Sigmaringen)

 

Tierheime reihenweise von der Pleite bedroht

Doggennetz.de nennt es den Niedergang der Tierschutz-Infrastruktur in Deutschland. Der zuständige Dachverband DTB labelt die bundesweite Katastrophensituation etwas konkreter: Rettet die Tierheime! lautete die Überschrift über die 2010 gestartete Kampagne des Dachverbandes, mit der auf diese fatale Entwicklung aufmerksam gemacht werden sollte.

Schon vor zwei Jahren gab der DTB die Zahl der von Insolvenz bedrohten deutschen Tierheime mit 50 Prozent an: also rund 250 der unter seinem Dach versammelten 500 Tierheime.

Eine rasche Google-Suche mit den Begriffen „Tierheim“ und „Pleite“ führt zu zahlreichen Treffern, aus denen nur einige mit Referenz auf entsprechende Zeitungsmeldungen herausgegriffen sein sollen:

https://www.otz.de/startseite/detail/-/specific/Tierheim-Schleiz-schliesst-am-1-November-1355818334

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https://www.jenaer-nachrichten.de/stadtleben/2088-tierheim-jena-droht-die-pleite-

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https://www.hamburger-allee.de/pleite-was-wird-aus-dem-tierheim-suderstrase.html

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https://www.bild.de/regional/leipzig/tierheim/tierheim-eilenburg-vor-dem-aus-25389418.bild.html

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https://www.tierhilfsnetzwerk-europa.de/detail/das-tierheim-bad-wildungen-kurz-vor-dem-aus/

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https://www.sn-online.de/Schaumburg/Bueckeburg/Bueckeburg-Stadt/Zu-viele-Hunde-zu-viele-Katzen-zu-wenig-Geld

 

Doggennetz.de selbst hat auch immer wieder über die bedrohte Situation der Tierheime berichtet – (und dabei mit Kritik am Dachverband nicht gespart):

Aua95 / Aua226 / Aua233 / Aua250 / Aua264 / Aua328 / Aua589

 

Kommunen schuld an Tierheim-Pleiten

Der DTB benennt als Ursache für die dramatische wirtschaftliche Situation vieler Tierheime in Deutschland, neben dem auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführenden Rückgang an Spenden,  an erster Stelle die Kommunen.

Wohl wahr!

Seit Jahrzehnten übernehmen die klassischen Tierschutzvereine mit den von ihnen getragenen (und damit finanzierten und bewirtschafteten) Tierheimen die Abwicklung einer kommunalen Pflichtaufgabe: der Fundtierbetreuung.

Viele Tierfreunde wissen – leider – gar nicht, dass ihr Tierschutzverein vor Ort für den berüchtigten Apfel und das viel zitierte Ei Vollzugsort einer kommunalen Pflichtaufgabe ist. Er betreut für seine Stadt, seine Gemeinde, seinen Kreis die Fundtiere. In den meisten Fällen stellt er für diese kommunale Pflichtaufgabe die gesamte Infrastruktur zur Verfügung: Ein Tierheim, das auch erst einmal gebaut und finanziert werden musste; Mitarbeiter, die immer auch erst zu finden sind und die dann in der alleinigen arbeits- und sozialrechtlichen Verantwortung der Tierschutzvereine beschäftigt werden.

Prima Sache – für die Kommunen! Jahrzehntelang haben diese ihre Verantwortung auf die Tierschutzvereine abgewälzt – und sie  dafür mit Alibizahlungen abgespeist. In der Pressemitteilung zur Kampagnen-Eröffnung Rettet die Tierheime schreibt der DTB, in welchem Verhältnis die von den Kommunen in Anspruch genommenen Leistungen zu den Zahlungen stehen:

               Eine breit angelegte Umfrage hat nun ergeben, dass die Kommunen durchschnittlich 25 Prozent der im Tierheim anfallenden Kosten übernehmen, aber knapp 80 Prozent der Leistungen abrufen.

(Deutscher Tierschutzbund, Pressemitteilung zum Start der Kampagne Rettet die Tierheime!, 2010; Hervorhebung d. Red.) 

              

Unter diesem unerträglichen Missverhältnis darf sich niemand wundern, wenn die Tierschutzvereine jetzt reihenweise dem Konkurs entgegensegeln. Alle Appelle des DTB an die kommunalen Mandatsträger haben offensichtlich nicht ausreichend gefruchtet (Beispiel hier).

 

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Die Gebetsmühle der Kommunalpolitiker im Landkreis Sigmaringen lautet: „Es gibt kein Katzenproblem im Landkreis Sigmaringen!“ Tierfreunde, Tierschützer und Ehrenamtler ebendort, die sich um Süffkätzchen wie die obige im Dutzend kümmern müssen, klingen solche Lügen wie bitterer Hohn in den vom ehrenamtlichen Einsatz müden Ohren!
Foto: mngw (Landkreis Sigmaringen)

 

 

Förderprogramme kommen zu spät

Sicherlich: Einzelne Bundesländer, z. B. Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, haben spezielle Förderprogramme für die Tierheime aufgelegt.

In NRW besonders erfreulich war, dass der Zugriff auf Gelder aus dem Fördertopf an die Voraussetzung gebunden wurde, nicht im AuslandstierschutzGESCHÄFT mitzumischen (vgl. Aua278). Offensichtlich hatte man im bevölkerungsreichsten Bundesland erkannt, dass es gerade die ausufernden Aktivitäten der überwiegend tierschleppenden Auslandstierschutzorganisationen sind, welche die deutsche Tierschutzinfrastruktur langfristig in den Abgrund steuern.

In Baden-Württemberg wurde ein entsprechendes Förderprogramm mit einer Million Euro aus Landesmitteln schon 2010 aufgelegt. Glücklich diejenigen Tierschutzvereine, die sich den Zugriff auf diese Mittel sichern konnten wie z. B. Rheinfelden (hier) und Lörrach 2011 (hier)

Für viele Tierheime jedoch ist der Zugriff auf diese Landesmittel aufgrund des nötigen Eigenfinanzierungsanteil nicht möglich. Für sie kommt diese Hilfe zu spät!

 

Und dann passiert Sigmaringen!

Und was passiert, wenn die von den Tierschutzvereinen getragenen Tierheime pleitegehen? Dann passiert: Sigmaringen! Denn im Landkreis Sigmaringen regiert de facto schon seit knapp zehn Jahren, de jure seit 2009 der Worst Case: ein Kreistierheim in kommunaler Trägerschaft!

Denn: Die kommunale Pflichtaufgabe zur sogenannten Fundtierverwaltung, vom DTB und den Tierschützern abmildernd und freundlicher als „Fundtierbetreuung“ bezeichnet, die bleibt. Das bedeutet: Die Kommunen müssen weiterhin Fundtiere aufnehmen, auch wenn es keine Tierheime in Trägerschaft gemeinnütziger Tierschutzvereine mehr vor Ort gibt.

Wenn die Tiere es nicht ausbaden müssten, man könnte sich gemütlich zurücklehnen und mit gewisser Genugtuung betrachten, wie die Kommunen ohne die durch Spenden finanzierte und durch selbstloses Ehrenamt ermöglichte Infrastruktur der für ein Entgelt im Peanuts-Bereich zur Verfügung gestellten Tierheime ihren Pflichten nachkommen.

 

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Natürlich liegen gerade in einem ländlich strukturierten Landkreis wie Sigmaringen die Kassen auf dem Trockenen. Und natürlich sind der größere Teil sogenannter Fundtiere in diesem Landkreis Katzen. Verständlich, aber nicht akzeptabel, dass die in den Gemeinderäten sitzenden Landwirte KEINE Gelder für jene Kreaturen freigeben wollen, um die sich in vielen Fällen schon auf ihren eigenen Höfen nicht kümmern.
Foto: mngw (Landkreis Sigmaringen)

 

Sigmaringen könnte die Zukunft sein

Wenn die in Trägerschaft der Vereine stehenden Tierheime zugrunde gehen, müssen die Kommunen selbst sehen, wie sie ihre Fundtierverwaltung organisieren. Was dann passiert, ist im Landkreis Sigmaringen zu beobachten.

Dort wurde der frühere Tierschutzverein Sigmaringen e. V. mit dem von Doggennetz.de immer wieder kritisierten Dilettantismus des Vereinsvorstands mutwillig vor die Wand gefahren. Am Ende stand eine grandiose Pleite. Die Abwicklung des Insolvenzverfahrens zog sich fast zehn Jahre hin. Am Ende guckte unter anderem ein Tierarzt mit dem Ofenrohr ins Gebirge und dort seinen unbezahlten Rechnungen im fünfstelligen Bereich hinterher. Davon hat sich dieser Landkreis bis heute nicht erholt.

An die Stelle des einen großen Vereins  in diesem Landkreis treten heute mehrere kleine, die verzweifelt ums Überleben kämpfen: Tierschutzverein Bad Saulgau e. V., Tierschutzverein Pfullendorf e. V., beide Mitglied im DTB. Der Tierschutzverein Pfullendorf hat noch nicht einmal eine eigene Internetpräsenz.

Weiterer Aktivposten des karitativen Tierschutzes im Landkreis ist die Katzenhilfe Herbertingen-Drevenack e. V.

Die Katzenhilfe Sigmaringen e. V. fasst schon ihre Abwicklung ins Auge, weil Tierschutz in diesem Landkreis nicht mehr zu finanzieren sei, wie die erste Vorsitzende Doggennetz.de gegenüber erklärt.

Hinzu kommen noch private Initiativen wie die Katzenhilfe Gammertingen.

Der geplante Zuzug der gemeinnützigen GmbH Villa Samtpfötchen aus dem Nachbarlandkreis Konstanz könnte unter Umständen eher zu einem Problem als zum Gewinn für die Tierschutzsituation im Landkreis Sigmaringen werden. Dazu später mehr.

 

 

„Modell Sigmaringen“:  NOCH die bundesweite Ausnahme!

Das Kreistierheim Sigmaringen soll in Baden-Württemberg das einzige sein, das in kommunaler Trägerschaft steht. (Eine Anfrage dazu an den Landestierschutzverband Baden-Württemberg wurde bisher noch nicht beantwortet.)

Aber auch bundesweit sind Tierheime, die von Kommunen betrieben werden, eine ganz seltene Ausnahme. Zahlen darüber sind nicht leicht zu finden. In Sachsen-Anhalt etwa befinden sich von 31 Tierheimen und zehn Tierauffangstationen nur drei in kommunaler Trägerschaft (vgl. Kleine Anfrage an den Landtag von Sachsen-Anhaltvom 05.01.2012).

Der Umstand, dass das „Modell Sigmaringen“ die Ausnahme ist und dass diese Ausnahme enorme Probleme mit sich bringt, hat sich bisher noch nicht einmal vielen Bürgern und Tierfreunden im Landkreis erschlossen. Das liegt auch daran, dass diese spezielle Konstellation überhaupt nicht kommuniziert wird. Aus gutem Grund der dafür Verantwortlichen, wie nachfolgende Artikel dieser Serie zeigen werden.


Weitere Artikel dieser Serie:

Aua816 / Aua821 / Aua824 / Aua840