Aua1: Virtueller und Grauzonen-Tierschutz

{TS/DS-Kritik}

Bevor wir jetzt unseren Patienten auf den Röntgentisch legen, müssen wir zuerst seine Daten komplett aufnehmen. Nicht dass es hier zu den schulmedizinisch beliebten Verwechslungen kommt. Denn es geht nicht um den Gesamtbereich Tierschutz, sondern um jene eigenartigen Gewächse, die da in einer von jeglicher demokratischen, behördlichen oder What-ever-Kontrolle freigestellten Grauzone karitativen Wirkens vor sich hinschwären. Ihr zentraler Aktionsraum ist das Internet. Mehr noch: Ohne das Internet wären diese Orgas gar nicht denkbar. Deshalb haben sie auch keine gesellschaftliche Realität. Nicht nur deshalb bleiben sie auch ohne gesellschaftliche Wirkung.

Aus diesen zwei Merkmalen leitet sich meine Bezeichnung „virtueller und Grauzonen-Tierschutz“ ab.

Betrachten wir das gesellschaftliche Aufgabenpaket TIERSCHUTZ insgesamt, so sind folgende Unterscheidungen geläufig:

· politischer Tierschutz (z. B. Tierrechtsbewegung und alle Tierschutz-Organisationen, die auf gesellschaftlicher und politischer Ebene versuchen, das Los unserer Mitgeschöpfe zu verbessern)

· karitativer Tierschutz, der sich beschützend einzelnen Kreaturen zuwendet

Der politische Tierschutz und seine Seitengewächse sind nicht mein Thema.

Im karitativen Tierschutz wiederum lassen sich zwei weitere Unterkategorien benennen:

· lokal / regional organisierte, zumeist eingetragene Vereine, die neben der Kontrolle durch diese Rechtsform einem starken sozialen Korrektiv unterliegen

· spezifische Tierschutzorganisationen ohne heterogene soziale Kontrolle mit meist bundesweiten oder sogar internationalem Aktionsradius, die ohne Internet nicht denkbar wären

Zu diesen spezifischen Tierschutzorganisationen gehören z. B. alle tierartenspezifischen Gruppierungen mit mindestens bundesweitem Aktionsradius, bei Hunden natürlich die rassespezifischen Not-Orgas (womit wir in der Doggen-Szene angekommen wären) sowie der sogenannte Auslandstierschutz, wenn dieser das Haupt“geschäftsfeld“ einer Orga bildet.


Klassische Tierschutzvereine unter sozialer Kontrolle

Der klassische (eingetragene) örtliche Tierschutzverein unterliegt einer ganz besonderen gesellschaftlichen Kontrolle. Der Unterschied zu den Grauzonen-Orgas offenbart sich meist schon darin, dass es mehrere Funktionsträger gibt, die, welch‘ demokratisches Übermaß, auch noch gewählt werden, ihre Ämter jeweils nur für satzungsgemäß definierte Zeiträume ausüben dürfen und sich dann der Wiederwahl stellen müssen.

Neben diesen strukturellen Zügeln unterliegen die Funktionsträger des klassischen örtlichen Tierschutzvereins auch noch einem starken sozialen Korrektiv. Alle Verantwortlichen (z. B. Vorstand, Beirat, Kassierer, Tierschutzbeauftragte, Tierheimleiter, Pflegepersonal etc.) sind im örtlichen Umfeld (Stadt/Landkreis etc.) namentlich und persönlich bekannt, sowohl in ihrem ehrenamtlichen wie auch sonstigem Wirken quasi vor Ort beobachtbar. Jeder Bürger kann die von dem Tierschutzverein unterhaltenen Einrichtungen, im Normalfall ein Tierheim, zu bestimmten Zeiten betreten und sich selbst ein Bild machen. Auch Menschen, die dem Thema Tierschutz selbst nicht nahestehen, kriegen als Nachbarn, Bekannte, Arbeitskollegen etc. das Wirken dieser Personen mit; und zwar auch abseits ihres Ehrenamtes Tierschutz. Die örtliche Presse berichtet gelegentlich. Volkes Meinung kann sich vom Verein unzensiert z. B. in Leserbriefen Luft machen. Und jede Lokalredaktion einer Zeitung wird Hinweisen auf Missstände mit journalistischem Instrumentarium nachgehen und solche veröffentlichen. Die Mitgliederversammlung kontrolliert die Funktionsträger; das Staatliche Veterinäramt die Einrichtung (Tierheim etc.).

Und bei all dem müssen alle Personen, die den Verein nach außen hin vertreten, ihr Auftreten, ihr Handeln, ihre Verlautbarungen so gestalten, dass sie nicht nur für emotional überqualifizierte Tierfreunde, sondern für den größeren Teil des sozialen Umfeldes akzeptabel sind. So bleiben Tierschutz und Gesellschaft im Dialog.

All diese Strukturen wirken korrigierend.


Tierschutz ohne Korrektiv


All diese korrektiv wirkenden Strukturen fehlen im virtuellen und Grauzonen-Tierschutz.

Zwar sind auch hier die Funktionsträger und Aktivisten namentlich bekannt, aber eben schon nicht mehr persönlich. Eine Orga, die bundesweit Pekidoodles (die Rasse habe ich jetzt extra für diesen Artikel erfunden) vermittelt und ihren (im günstigsten Fall) Vereinssitz in Castrop-Rauxel hat, wird dem in Pekidoodle-Flammen stehenden Hundefreund in Popelhausen hinterm Berg eben im Regelfall nur virtuell, höchstens noch telefonisch „bekannt“ sein. Wie sich der, meistens die Pekidoodle-In-Not-Vorsitzende außerhalb des WWW und in ihrem sozialen Umfeld bewegt, davon bekommt er keinen Eindruck. Selbst einmalige persönliche Begegnungen bei allfällig organisierten „bundesweiten“ Pekidoodle-Treffen werden keinen so umfassenden, unorganisierten, spontanen und dauerhaften Eindruck hinterlassen wie die kontinuierliche lebensweltliche Begegnung vor Ort.

Eine ausführliche Darstellung der mannigfaltigen Defizite der virtuellen Welt sprengt den Rahmen dieses Artikels. Aber es scheint vielen einfach nicht bewusst zu sein, dass alle Darstellungen und Angaben dieser virtuellen Orgas eben primär schlecht bis gar nicht überprüfbar sind. Denn manchmal und nicht nur im Altfall „Marius“ konnte und kann man nur staunen, zu welchen Bewertungen und Einschätzungen sich die vielen Experten hinreißen lassen, ohne den „Fall“ jemals persönlich gesehen zu haben. Haltungsbedingungen, Gesundheitszustände und Verhaltensstörungen werden rein auf der Basis der im Internet verfügbaren Beschreibungen und evtl. Bilder mit Bravour bewertet und beurteilt, auf Grundlage dessen dann die wildesten Empfehlungen vom Stapel gelassen werden. Marius und ich können davon nicht nur ein variantenreiches Lied singen; ich habe das auch dokumentiert.

Und nicht nur auf der Internetplattform „Second life“ kann man sich virtuell ganz neue Identitäten schaffen. Wie geht es zusammen, wenn Menschen im Internet erfolgreich ganze Heerscharen von Gläubigen dirigieren, die sich im wirklichen Leben nicht den Hauch eines sozialen Umfeldes zu schaffen in der Lage sind?

Primär virtuell agierende Orgas profitieren von einem Merkmal des Internets in ganz besonderer Weise: von der Intransparenz. Transparenz aber in der Anwendung auf unseren Gegenstand – Tierschutz – ist erster Prüfstein für Seriosität und Professionalität.

Im Dschungel Tierschutz ohne Korrektiv lassen sich dann aber immer noch einmal zwei Grundformen agierender Tierschutzorgas unterscheiden: Jene, die sich wenigstens noch der Rechtsform „eingetragener Verein“ unterwerfen, und jene, die sogar darauf verzichten. Dass das halbschlappe Kontroll-Instrumentarium (Satzung, Mitgliederversammlung, Buchführung, Kassenprüfung, Entlastung etc.) eines eingetragenen Vereins Missbrauch und die Veruntreuung von Spendengeldern nicht wirklich verhindert, haben die vielen Skandale der vergangenen Jahre bewiesen. Aber wenn eine Orga sogar darauf noch verzichtet, zu welchen Rückschlüssen muss das führen?

Auch mit den behördlichen Kontrollen sieht es im virtuellen Tierschutz verdammt mau aus. Grauzonen-Orga-Aktivistinnen erzählen hämisch lachend, dass sie ihre Erlaubnis nach § 11 TierschutzGesetz quasi beim Kaffeetrinken mit dem Veterinär bekommen haben. Wir unterhalten in der Szene Einrichtungen, von denen sich kein Profi mit Erfahrungen im Umgang mit Veterinärbehörden im Ernst vorstellen kann, dass diese jemals oder gar in jüngerer Vergangenheit von einem nüchternen, unbekifften, koksfreien Amtstierarzt begangen und abgenommen worden sind. Ist die Genehmigung nach § 11 TschG einmal raus, scheint sich die zuständige Fachbehörde nie mehr für die genehmigten Einrichtungen zu interessieren; so „nie mehr“, dass Orga-Verantwortliche in ihren Website-Blogs schon stark enthemmt von hygienischen, baulichen und bestandsdynamischen Katastrophenzuständen berichten, die einem Profi gelinde gesagt die Fußnägel ziehen.

Unter den Mechanismen des Personenkults, Märtyrertums und mit schlicht propagandistischem Werkzeug wird das alles der eigenen Fan-Gruppe, der es meist, naturgemäß und entschuldbar an dem notwendigen Fachwissen fehlt, als karitativer Verdienst verkauft. Denn über det Janze steht ja balkenbreit „Tierschutz“. Erwartungshaltung lenkt die Wahrnehmung! Und so mutiert die Baufälligkeit von Einrichtungen vom Sicherheitsrisiko zur Heiligenscheinpolitur und der Durchsatz an „Schützlingen“ wird eher als tierschützerische Heldentat denn als bedenkliche und nach innen stressende Bestandsdynamik wahrgenommen.


Keine Diskussion!

Ob über das Treiben des örtlichen Tierschutzvereins diskutiert wird oder nicht, das entscheidet nicht der örtliche Tierschutzverein.

Ob über das Treiben der Grauzonen-Orga diskutiert wird, das entscheidet allein die Grauzonen-Orga bzw. der, eher die One Woman, die das Zepter in der Hand hält.

Für Orgas, die primär virtuell existieren, kommt auch nur die virtuelle Welt als Diskussionsraum in Frage, wenn man von mühsamen Eins-zu-eins-Verleumdungstelefonaten quer durch die ganze Republik absieht. Aber die Möglichkeiten des Internets, zzgl. im Bedarfsfall williger Anwälte, spielen den Grauzonen-Orgas günstig in die Hände: Eine Diskussion findet nicht statt! Basta-Mentalität, die demokratisch bedenklich in den Orga-eigenen Kreisen der Wasserträger und Claqueure keinerlei Stirnrunzeln erzeugt.

Keine Diskussion! Wo auch? Etwa auf der übelsten aller propagandistischen Plattformen, im Gästebuch? Diesem ganz besonderen Instrument werden wir uns noch an anderer Stelle zuwenden. Im Status quo dienen Gästebücher der Grauzonen-Orgas nur und ausschließlich der Installation der eigenen Person/Orga als Märtyrer; meist ist das eine (= Person) nicht vom anderen ( = Orga) zu trennen – eine weitere Bedenklichkeit. Freigeschaltet werden Gästebucheinträge kraft souveräner Willkür. Höchstens kann man noch lästige Kritiker kurz beschädigen lassen, bevor man eine weitere Diskussion mit dem Hinweis abwürgt, ein Gästebuch sei nicht der richtige Ort für diese Auseinandersetzung; einen anderen aber gibt es nicht.

Einige Grauzonen-Orgas betreiben eigene Foren. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass für ein einziges Themenfeld, wie etwa den Doggen-Schutz, verschiedene, einander natürlich feindlich gesinnte Doggen-Orgas verschiedene, jeweils getrennte Foren betreiben. Zu diesen dann haben die Vertreter, Anhänger und Sympathisanten der jeweils anderen Orga(s) keinen Zutritt. Wenn man doch irgendwie in eins dieser Foren hineingekommen ist, sollte man möglichst schnell herausbekommen, welche Meinungen in diesem Forum en vogue sind, denn Abweichler werden erst niedergemacht und dann rausgeschmissen! Jeder Ansatz, die betriebseigenen heiligen Kühe auch nur kritisch zu hinterfragen, öffnet die Büchse der Pandora. Um nur annähernd vergleichbare Reaktionen zu provozieren, hätte man vor 300 Jahren seiner Königin einen Ochsenziemer auf die Sitzfläche ihres Throns dübeln oder dem Bischof in Hüfthöhe einen Eingriff ins Kleidchen schnippeln müssen. 2010 – doch im Dunstkreis der virtuellen Tierschutzorgas gibt es noch die Tatbestände Majestätsbeleidigung und Insubordination. Wenn es abseits von Sekten, terroristischen Vereinigungen oder sonstigen, vom Verfassungsschutz beobachteten Gruppierungen noch totalitäre Strukturen des Meinungsmonopols gibt, dann bitte in diesen Foren!

Da es sich ja immer um „Special-interest“-Themen handelt, macht das Einführen dieser Themen auf übergeordneten Foren, also etwa allgemeine Hundeforen etc., wenig Sinn. Überdies verwahren sich die Verantwortlichen solcher Foren zurecht vor den gern auch in kriminelle Exzesse auswachsenden Auseinandersetzungen konkurrierender X-Rasse-Schützer. Welcher Forenbetreiber möchte sich schon gern mit Drohmails konfrontiert sehen, die ihm eine Denunziation unter dem Stichwort Kindesmissbrauch bei seinem Arbeitgeber in Aussicht stellen.


Freischwebend im rechtsfreien Raum

All diese strukturellen Gegebenheiten und Mechanismen führen dazu, dass die Verantwortlichen solcher Orgas und ihre Fan-Gruppen komplett den Kontakt zur Realität verlieren. Dass menschliches Handeln in sozialen Aktionsräumen der Kontrolle bedarf, ist eine der vorzüglichen Erkenntnisse und Errungenschaften von Zivilisation und Demokratie.

Was die völlige Abwesenheit von jeder Form der Kontrolle in diesen Grauzonen-Orgas anrichtet, welche weiteren verheerenden Ingredenzien das Unheil noch vergrößern und sogar die Kreatur beschädigen, die zu schützen man einst einmal angetreten ist, all das wird hier in nächster Zeit Thema sein.

Menschen jenseits solcher zügelnden Strukturen, die sich, auf einer Welle des Personenkults emporgetragen, von nix und niemanden mehr korrigieren oder in Frage stellen lassen, glauben sich allmächtig – und handeln demgemäß. Recht hin oder her. In den satirisch hervorragend ausbeutbaren Exzessen einer solchen Fehlentwicklung wähnen sie sich vielleicht sogar gleich der Sphäre des Göttlichen zugehörig und bezeichnen sich ganz bescheiden als Engel! Das kann sich kein Satiriker ausdenken!

Karin Burger im Juni 2010