Wollen wir über Liebe sprechen? [Miren Sassoust]

Bei aller Kritik nach „außen“ müssen sich seriöse Tierschützer, wenn sie dann solche sein wollen, auch immer wieder selbst hinterfragen, ihr Tun und ihre Motive reflektieren. Sind wir uns wirklich immer sicher über das, was uns treibt? Mit ungeschminkter Ehrlichkeit?
Der guten Zusammenarbeit mit der französischen Doggenschutz-Organisation Rescue Dogue haben wir nachfolgenden Gast-Autorinnenbeitrag zu verdanken: ein nahezu philosophischer, dabei in seiner Brisanz nicht zu unterschätzender Essay mit berechtigten Fragen zum wahren Gesicht der Wohltätigkeit. Dieser hervorragende Text ist auch Vorwort auf der neuen Website von Rescue Dogue https://rescuedogue.free.fr.
Die Aktualität der hier gestellten Fragen zeigt sich auch an dem traurigen Umstand, dass es leider immer noch Tier- und Doggenschützer gibt, die durch blank emotional-irrational gesteuerte Welpenfreikäufe bei Hundehändlern die Produktion erst richtig anheizen. Eine hochverlogene egozentrische Wohltätigkeit, die das Leid der Doggenhündinnen, die in irgendwelchen dunklen Verschlägen als Gebärmaschinen missbraucht werden, hintanstellt und nicht erkennen will, dass jeder Freikauf ein direkter Auftrag zur Fortsetzung dieses Elends ist. Aber das hochwahre Diktum „gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht“ wird schon bei nachlässigen Vermittlungen oder der permanenten Umplazierung von einem Pflegeplatz auf den nächsten zur für die betroffenen Doggen bitter spürbaren Wahrheit – wie die französische Kollegin Miren Sassoust sehr einfühlsam herausarbeitet:

Im Lexikon wird „Liebe“ als uneigennützige, tiefe Zuneigung zu bestimmten Lebewesen oder Sachen definiert. Dabei können wir sehr wohl einen Unterschied feststellen, je nachdem ob das Gefühl zu lieben einem Lebewesen oder einer Sache entgegen gebracht wird. Aber gibt es auch einen Unterschied zwischen der Liebe, die wir einem uns nahestehenden Lebewesen entgegenbringen, und derjenigen, welche wir für ein Lebewesen empfinden, dem wir helfen möchten, weil es sich in einer Notlage befindet? Welche Gründe sind es, die uns veranlassen, Lebewesen in Not, zu denen wir keine besondere Beziehung haben, die uns unbekannt sind, helfen zu wollen? Liebe, Uneigennützigkeit, Mitleid, Barmherzigkeit…?

Und wenn die Wohltäter manchmal – unbewusst – zu Peinigern würden?

Der Fall der sog. Wolfskinder in Indien (Berichte aus dem Tagebuch von Reverend Singh) ist ein Beispiel moralischer Gewalt, die den betroffenen Kindern von ihren „Wohltätern“ mit den besten Absichten angetan worden ist… Die „Retter“ hatten nicht begriffen, dass sie den ursprünglich zwar menschlichen, aber in der Zivilisation des „canis lupus“ aufgewachsenen Kindern Gewalt antaten, indem sie sie für ihre Unfähigkeit, sich dem Kodex der menschlichen Gesellschaft anzupassen, bestraften. Das Empfinden der „Wohltäter“ war zutiefst verletzt, und unter dem Vorwand, ihre Seelen retten zu wollen, sind die Kinder eingesperrt und „dressiert“ worden. Ein für die Kinder völlig unbegreifliches Martyrium …

Kann man ein Lebewesen lieben – oder ihm zumindest in angemessener Weise Hilfe in der Not leisten – und gleichzeitig mehr oder weniger bewusst seine spezifischen Eigenschaften als Individuum oder als Spezies verneinen? Bewirkt das Nicht-Respektieren seiner grundlegenden Bedürfnisse, seiner Sprache, seiner Kultur, ein psychisches Leiden?

Es hat Jahrhunderte gedauert, bis die „Retter“ von Menschen anderer Völker, anderer Kulturen, anderer Kontinente den heute einleuchtenden Gedanken verstanden und zugelassen haben, dass Menschen nicht geholfen werden kann, ohne dass ihr Glaube, ihre Kultur, ihre Tradition respektiert werden. Die Wohltäter waren verärgert über die Zurückhaltung dieser Menschen, die nicht bereit waren, die Kultur und den Reichtum ihrer „Retter“ mit der von diesen erwarteten Bereitwilligkeit und Dankbarkeit anzunehmen.

Und die Wohltätigkeit zeigte ihr wahres Gesicht …

Unsere westliche Welt preist die Nächstenliebe… wie aber behandelt sie manchmal auch heute noch ihre körperlich und geistig Kranken, ihre Alten? Wie lange ist es her, dass schwarz Geborene automatisch als Sklaven betrachtet wurden? Seit wann haben die Frauen das Stimmrecht? …das sind nur einige Beispiele, die Liste wäre beliebig verlängerbar.

Erlaubt uns vielleicht unsere Einschätzung des Anderen als von uns verschiedenes, vermeintlich oder tatsächlich geringeres und somit mit weniger Würde ausgestattetes Lebewesen, Kompromisse mit unserem Gewissen einzugehen, die wir andernfalls als unzulässig betrachten würden?

Die Menschheit hat im Laufe der Zeit zwischen sich und dem Tierreich eine unüberwindbare Barriere errichtet. Welche Art von Liebe können wir damit dem anderen Lebewesen überhaupt noch entgegenbringen? Diesem Anderen, das wir durch den Filter unserer von Selbstüberschätzung getrübten Augen betrachten? Früher (und oft auch heute noch) haben wir unser Gewissen beruhigt, unser Handeln gegenüber unseresgleichen gerechtfertigt, indem wir auf deren Andersartigkeit hinwiesen, auf die Gefälligkeit, die wir erweisen, auf die Dringlichkeit der Situation, auf das mangelnde Verstehen des Anderen.

Können wir uns von dieser tief im kollektiven menschlichen Unterbewusstsein verankerten Weigerung, unsere Zugehörigkeit zum Tierreich anzuerkennen, befreien? Von der einzigen Möglichkeit, uns unserer Überlegenheit zu versichern? Und wenn ja, sind wir dann fähig, die Bedürfnisse und die Leiden fühlender Lebewesen einer anderen Spezies zu verstehen und sie richtig zu bewerten?

Es scheint, dass die Liebe es sich manchmal leicht macht, die Wirklichkeit zum Nachteil der Tiere zurecht zu legen. Hunde sind der Willkür gewisser Tierschützer ausgeliefert, aber niemand würde es wagen, deren „Tierliebe“ in Frage zu stellen; sie selbst sind sich dessen vermutlich gar nicht bewusst.

Nachfolgend einige wahre Geschichten:

Ein bereits einmal vermittelter Hund wird im Hof angekettet vorgefunden. Die Kette ist so eng, dass sie in seinen Hals einschneidet. Der Hund wird von seinem „Retter“ an eine labile, mit Alkoholproblemen kämpfende Familie vermittelt … im vollen Wissen der Sachlage. Ist das entschuldbar? Der Hund wird einige Wochen später ganz plötzlich wieder abgegeben.

Jemand bringt seinen 10 Monate alten Hund zur Euthanasie. Die Person hat sich nicht die Mühe gemacht, ihren Molosser verstehen zu wollen … Man vertraut ihr einen anderen Hund an – es ist inzwischen in ihr Haus eingebrochen worden – , der schon mehrere Male erfolglos vermittelt worden ist… im vollen Wissen der Sachlage. Ist das entschuldbar? Der Hund wird einige Wochen später wieder abgegeben.

Wie kann man ein solches Vorgehen entschuldigen? Wie kann man die Idee gutheissen, einen seelisch unter Schock stehenden, in der hintersten Ecke seiner Box sich zusammen kauernden Hund, der nicht wagt den Blick zu heben, an Personen abzugeben, die ihn ihrerseits an jemand unbekannten weitervermitteln wollen? Was ist das Leben des Hundes in den Augen solcher Tierschützer wert?

Und was ist mit diesen Vermittlungen „auf gut Glück“, per Kleinanzeige, über die man zwar schimpft, an die man sich aber gewöhnt? Man zuckt mit den Achseln, wenn ein Hund zum sechsten Mal wieder abgegeben wird – irgendwie kann man sich immer aus der Verantwortung ziehen. Schlussendlich ist es doch so, dass diese armen Hunde einfach kein Glück haben. Sicher, aber ….

Wie ist es möglich, dass sich so viel Mitgefühl und Aufopferung seitens der „Tierfreunde“ hinterrücks in eine Komplizenschaft mit Zufalls-Rechtfertigungen und für den Hund gefährliche Vermittlungen verwandeln kann?

Damit, dass wir uns einverstanden erklären, einen bereits entwurzelten Hund von einer Familie zur nächsten zu verschieben, in der Hoffnung, dies sei nun endlich die richtige, nehmen wir in Kauf, dass dem Tier weiteres Leid zugefügt wird. Das Tier, das bereits alle Bezugspunkte verloren hat und dessen Seele keine weiteren Verletzungen ertragen kann, wird noch mehr verwirrt, es wird ihm einmal mehr Gewalt angetan.

Sollten wir nicht aufhören zu glauben, dass wir allein damit, dass wir handeln, Gutes tun?

Tiefe und uneigennützige Zuneigung … Uneigennützig? Wie viele Jahrhunderte werden noch vergehen, bis der Ausdruck „Tierliebe“ endlich Sinn macht? Bis endlich das Tier vom Einsatz, von der Hilfe der „Tierfreunde“ profitiert und nicht mehr der Mensch?

In den Fabeln von Marcel Aymé hat die Katze beschlossen, die Maus nicht zu töten. Sie lässt sie frei laufen, bis zwischen ihre Pfoten …. und wiederholt mit Genuss und Eitelkeit: „Ich bin gut, ich bin gut…“