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Aua41: Gastbeitrag Nina Taphorn: Rudel-Mania


{TS-Kritik}

                                                        

Der Spatz in der Hand

Manche Begriffe verzerren sich, nutzen sich ab, wenn man sie nur häufig genug in Zusammenhängen gebraucht, in die sie nicht hineingehören. Zum Beispiel der Begriff „artgerecht“. Wie man Legehennen oder Masthähnchen, Nerze zur Pelzgewinnung oder Wachhunde im Zwinger „artgerecht“ hält, ist in Gesetzen und Verordnungen geregelt. Mal ist es eine bestimmte Quadratmeterzahl, die einen Hundezwinger „artgerecht“ werden lässt, mal „natürlicher Boden“ mit „Scharrmöglichkeit“ für Hühner, die so gut wie kein Tageslicht in ihrem kurzen Leben sehen, oder für wasserverrückte Nerze der Zugang zu einem ein Quadratmeter großen Wasserbecken. Dies alles sind objektiv Verbesserungen für den Hund, das Huhn und den Nerz. Der Sand, das Wasser und der Bewegungsraum bieten den Tieren Möglichkeiten zur artgemäßen Betätigung, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Dadurch wird die Haltung nicht gleich artgerecht. Um es in geflügelte Worte zu kleiden, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, aber besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach!


Rudel allerorten

Einen Spatzen in der Hand, schielt doch so mancher nach der Taube auf dem Dach. Plötzlich hat jeder, der mehr als einen Hund hält, ein „Rudel“. Wer nur einen Hund hat, bildet dann eben mit diesem ein Rudel. Es gibt Menschen, die führen ganze Rudel Gassi. Soll heißen, man trifft sich regelmäßig mit mehreren Hundebesitzern zum Spaziergang. Kommt ein neuer Hund ins Haus, muss er ins „Familienrudel“ integriert werden, wobei nicht einmal andere Hunde gemeint sein müssen, sondern die ganze Familie mit Kindern neuerdings ein „Rudel“ bildet. Es gibt Hausrudel (das sind die, die vornehmlich drinnen leben) und es gibt Hofrudel (das sind die, die viel draußen herumlaufen). Es gibt Tierheimrudel (untereinander verträgliche Hunde im Tierheim, die gemeinsam den Auslauf nutzen oder Hofgang genießen) und sogar Schlittenhunderudel, die wortwörtlich an einem Strang ziehen.  

Nach dieser neuerdings sehr beliebten Nomenklatur bedarf es für ein Rudel nur einer einzigen Voraussetzung. Es muss mehr als ein Hund vorhanden sein. Doch sogar dieser einzige ist ein Gummiparagraf, denn zur Not springt eben ein Mensch als Rudelmitglied ein. War es wirklich das, was uns die Wolfs- und Hundeforscher in den letzten Jahrzehnten beigebracht haben? Lehrt uns die Beobachtung frei lebender Wolfsrudel wirklich eine solche Beliebigkeit?

 

Von Rudeln, Gruppen und Mehrhundehaltungen

     

Im Gegensatz zu der Bezeichnung HUNDERUDEL, bei dem von einem gewachsenen und durch verwandtschaftliche Beziehungen gekennzeichneten Verbund ausgegangen wird, […] 

schreibt Günther Bloch zu der Herausforderung, in seiner Hundepension harmonische Hundegruppen zusammenzustellen, die diese Voraussetzung nicht erfüllen.

     

Gerade weil gemischte Hundegruppen während der Urlaubszeit durch häufige Zu- und Abgänge verändert werden müssen, sollten sie stets einer strengen Kontrolle – durch bestens ausgebildetes Fachpersonal – unterliegen. Durch intensive Verhaltensbeobachtungen der Gestik und Mimik und damit verbundener Erfahrung wurde das System der Gruppenhaltung (Gruppen bis 12 Tiere im Haus, zwei Gruppen im Freilaufgelände) hier über die Jahre so entwickelt, dass sich die Hundezahl pro Gruppe immer umfangreicher gestalten ließ. Die Freilaufgruppen werden je nach Umfang von ein bis zwei Personen – die Gruppen im Haus durch eine Kamera – bewacht. (1)

Tierschützer und Hundebesitzer eilen der Forschung offensichtlich weit voraus, wenn sie überall Rudel sehen.  Das m. E. zum Thema „Hunde und Rudel“ interessanteste Projekt sind die Freilandstudien an verwilderten Haushunden in der Toskana von Günther Bloch, Stefan Kirchhoff u. a., veröffentlicht in „Die Pizza-Hunde“. Im Kapitel „Von rudelbildenden Hunden und extremen Tierschützern“ (S. 61ff) wird zunächst nach vorhandenen Definitionen des Begriffs gesucht und dazu anerkannte Wissenschaftler zitiert. Man ist sich einig, dass ein Rudel gemeinsam jagt, ruht, usw. und jedem Mitglied nützt. Coppinger sticht etwas heraus mit seiner Ansicht, Hunde könnten keine Rudel bilden. Doch auch der Mensch wird als Störfaktor ausgemacht, denn die Abhängigkeit vom Menschen hindert den Hund, sich erfolgreich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. (2)

    

Man weiß, dass die Sozialstruktur eines Rudels auf sehr komplexen Vorgängen basiert. Ausbilder, die mit Welpen und Junghunden umgehen, stellen sich daher einer enorm verantwortungsvollen und mitunter schwierigen Aufgabe. (3)

Ein Blick in die Grundlagenforschung? Kommt sofort!

      

Sehr wahrscheinlich sind die mit sehr viel Aufwand verbundenen Rangordnungs-Eifersüchteleien, wie sie in willkürlich zusammengestellten Rudeln der Tiergärten-Wölfe vorkommen, eine Gefangenschafts-erscheinung; (4)

Zur räumlichen Begrenzung schreibt Eberhard Trumler:

    

[…] werden sich wahrscheinlich im Freileben ganz anders abspielen, da das Ausweichenkönnen ganz sicher die Aggression dämpft. Als zweiter Punkt ist die Langeweile zu nennen, denn wenn Hunde nichts anderes zu tun haben, als auf ihr Futter zu warten, dann entsteht sehr leicht ein ‚Triebstau’, […]  (5)

Eindeutig, der Lack ist ab. Jede Romantik, ein Rudel zu haben, gar zu führen, womöglich der/die Alpha zu sein, geht in den hohen Ansprüchen der Fachleute unter. Dass Hunde überhaupt Rudel bilden, wollen sie uns nicht bestätigen. Wenn aber Rudel, dann- bitteschön- ohne räumliche Einengung und weitgehend auf sich selbst gestellt, miteinander verwandt und verschwägert und gemeinsam Dinge unternehmend. Will man hingegen Gruppen zusammenstellen, braucht man Fachpersonal, genügend Platz, eine Menge Wissen, Beobachtungsgabe und auch noch Überwachungskameras.

Mirjam Cordt hat über die Zusammenstellung von Hundegruppen ein Buch geschrieben. In „Hundereich“ berichtet sie, was sie alles unternimmt, um eine größere Gruppe meist älterer, starker Hundepersönlichkeiten, nämlich überwiegend Herdenschutzhunde, die auch noch im Tierschutz gelandet sind, miteinander zu vergesellschaften. Mirjam Cordt definiert, womit sie arbeitet. Sie bastelt sich kein Rudel, sondern sie stellt eine Gruppe zusammen.

     

Als Gruppe gilt ein Zusammenschluss einzelner Individuen, die nicht miteinander verwandt sind. Alle Tiere stammen aus unterschiedlichem Umfeld und verfügen somit über eine ungleich größere Anzahl von ganz individuellen Erfahrungen, als es bei einem Aufwachsen unter ähnlichen Bedingungen gegeben ist.  (6)

Wie sich Disharmonie auswirkt, beschreiben Lorna und Ray Coppinger anhand ihrer Leidenschaft für den Schlittenhundesport.

     

Eine der großen Aufgaben bei der Ausbildung ist die, den Hundepaaren beizubringen, sich gleich stark zu mögen, damit sie gleich stark an der Hauptleine ziehen. Aus diesem Grund ist es auch so schwierig, einen neuen Hund ins Gespann zu integrieren. Bis der neue Hund seinen Laufpartner und die anderen Gespannmitglieder gut genug kennen gelernt hat, verhält er sich reserviert, und das gibt einen Knick in der Hauptleine. (7)

Da fragt man sich doch ganz spontan, wie viele zwangsvergesellschaftete „Haus- und Hofrudel“ mit einem Knick in der Hauptleine leben müssen.

     

Hunde sind keine Wölfe. Hunde laufen nicht als Rudel. Beim Rudel geht es darum, gemeinsam zu jagen. Schlittenhunde laufen, weil die anderen Hunde laufen. (8)

widersprechen die Coppingers der romantischen Vorstellung, Gespanne würden von Rudeln gezogen, am besten noch von Wolfshybriden, weil der Mensch vor keiner Tierquälerei halt macht, um sein Bedürfnis nach Wildnis im Wohnzimmer zu stillen.

Die Wiederentdeckung der Emotionen

Doch es gibt auch die andere Seite. Patricia McConnell ist einer gewissen Romantisierung und Gefühlsbetontheit auch in der Wissenschaft keinesfalls abhold und meint „dass Anthropomorphismus nicht immer etwas Schlechtes ist.“. (9) Zwar könne die Gefühlswelt von Hunden nicht bewiesen werden, aber damit ist nicht in Stein gemeißelt, dass es sie nicht gibt. So schreibt McConnell zu einer Dreiergruppe von Hunden, die für ihre verletzte Besitzerin Hilfe holten: 

     

Als hoch soziale Tiere sind Hunde eine der wenigen Spezies, deren Individuen ihr Leben aufs Spiel setzen, um ein Rudelmitglied zu retten. (10)

Ja, warum nicht? Damit weist McConnell auf die einzigartige Karriere hin, die der Hund hinter sich hat. Von der Steppe auf die Steppdecke, könnte man sagen. Auch wissen wir, dass Hunde wirklich extrem sozial sind. Von kleinen Ungerechtigkeiten, schlechter Laune des Besitzers oder unangenehmen Dingen wie ein Bad im Flohschutzshampoo lassen Hunde sehr viel über sich ergehen.

 

Mit Herz und Verstand

Leider können Hunde uns nicht direkt sagen:“ Hey, dieser Auslauf ist zu klein, wir sind schon zu fünft.“ Oder „Ich bin gestresst! Dieser Bullterrier da hat einfach keine Mimik, siehst Du das denn nicht?“ Oder „Malte ist weg, wir vermissen ihn!“ Somit ist der Hund, der mit Menschen zusammen lebt, auf dessen Fachkunde angewiesen.

Ich werde mich an dieser Stelle besser gleich als hoffnungslose Romantikerin outen, obwohl ich nicht an die vielen Rudel glaube, die uns neuerdings umgeben. Doch vor dem hundlichem Sozialverhalten habe ich großen Respekt. Für mich ist es mehr als eine kleine wissenschaftliche Ungenauigkeit, jede zusammen gewürfelte Hundeansammlung ab zwei Individuen zum Rudel zu stilisieren. Es steckt eine Erwartung dahinter, nämlich dass sich die ganze Horde, ob zwei oder 20 Hunde, benimmt wie ein gewachsener Sozialverband von Wölfen in der freien Wildbahn. Auf diese Weise verkleistert so mancher Hundehalter den Stress, dem er seine Hunde aussetzt, wenn das angebliche Rudel zu groß für den vorhandenen Raum ist, unharmonisch zusammengestellt wurde oder ständiger Fluktuation unterliegt. Es  scheint einigen Hundebesitzern tatsächlich zu genügen, dass alle ihre vier Hunde kläffend zur Tür stürmen, wenn es klingelt, um eine Gruppendynamik im Sinne eines Rudels zu beweisen. Aggressive Verhaltensweisen oder stressbedingte Verhaltens- und Gesundheitsstörungen einzelner „Rudelmitglieder“ werden leider häufig verharmlost oder verschwiegen. Allenfalls wird gelegentlich an das Mitleid eventueller Interessenten für einen Hund aus dem Tierschutz appelliert mit der Begründung, einem armen Wesen, das ständigem Mobbing ausgesetzt ist, doch bitte ein Zuhause zu geben, denn dieses Wesen „muss da raus“. Dazu Mirjam Cordt, die den Wolfsforscher David Mech folgendermaßen wiedergibt:

     

Laut Mech schlägt der Versuch fehl, Erkenntnisse über das Verhalten vom Menschen zusammengesetzter und nicht verwandter Wölfe in Gefangenschaft auf die Familienstrukturen natürlicher Rudel zu übertragen. Beim Menschen würde ein solcher Vergleich bedeuten, durch Beobachtung von Menschen in Flüchtlingslagern Rückschlüsse auf menschliche Familienstrukturen in einer demokratischen Gesellschaft zu ziehen. (11)

Dieser Einwand bezieht sich offensichtlich auf die Anfänge der Wolfsforschung, die Wölfe in Gehegen beobachtete, wobei schnell klar wurde, dass die räumliche Enge Verhaltensweisen fördert, die in der Natur so nicht vorkommen. Nimmt man dann noch beliebig zusammengestellte Paare oder mehrere Individuen, die man in ein Gehege bringt, als Forschungsgegenstand, ist die Vergleichbarkeit mit wilden Wolfsrudeln dahin. (Siehe Trumler.) Können wir also umgekehrt die natürlichen Verhaltensweisen der frei in Rudeln lebenden Wölfe einfach auf unsere Haushunde anwenden, obwohl in der Forschung noch nicht einmal Einigkeit darüber besteht, inwiefern sich auch nur das Einzelindividuum Hund mit einem Wolf vergleichbar verhält?

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Man kann es hören, wie die Hündin Jolina (links) ihrem Artgenossen zuraunt: „Komm näher, Zwerg! Wir sind doch ein Rudel!“ Bild: Nina Taphorn


ANMERKUNGEN:

   
  • (1)    Günther Bloch: Der Wolf im Hundepelz, Bad Münstereifel 1997, S. 136.
  • (2)    Günther Bloch: Die Pizza-Hunde, Stuttgart 2007, S. 61 ff.
  • (3)    Ekard Lind: Richtig Spielen mit Hunden, Augsburg 1996, S. 101 f.
  • (4)    Eberhard Trumler: Mit dem Hund auf Du, München 1984, S. 178.
  • (5)    ibid, S. 175
  • (6)    Mirjam Cordt: Hundereich, Bernau 2006, S. 20.
  • (7)    Ray und Lorna Coppinger: Hunde, Bernau 2001, S. 197
  • (8)    ibid, S. 200.
  • (9)    Patricia B. McConnell: Liebst Du mich auch? Mürlenbach/Eifel 2007, S. 44
  • (10)  ibid., S. 45
  • (11)  siehe (6), S. 18