Aua923: Ein neues Konzept für den Auslandstierschutz (2): Strukturaufbau nach dem Modell Tierschutzprojekt Ungarn

 

{TS-Kritik}

 

Im ersten Artikel der Doggennetz.de-Serie Ein neues Konzept für den Auslandstierschutz (Aua914) wurde der Aufbau von tierschutzgerechten Strukturen im Ausland als Merkmal seriösen und effektiven Auslandstierschutzes beschrieben. Von Auslandstierschutz in der eigentlichen Bedeutung des Wortsinns kann nur dort die Rede sein, wo Vereine und Organisationen im Zielland selbst Partner angeben und aktive Tierschutzarbeit im Land nachweisen können.

Die Mehrzahl angeblich Auslandstierschutz betreibender Vereine und Organisationen tun dies nicht. Sie verwechseln Auslandstierschutz mit schierer Tierschlepperei. Der Skandal der letzten Woche (vgl. Aua919) legt davon beredtes Zeugnis ab. Die in den Transportskandal involvierten Vereine weisen auf ihren einschlägigen Webseiten nichts vor (vgl. z. B. Hundehilfe Leiningerland e. V.), was Beleg von Aufbau- und Strukturarbeit im Ausland sein könnte. Stattdessen bestehen sie schon erste Seriositätschecks nicht.

Wie Auslandstierschutz mit Sinn und Verstand funktioniert und welche  Möglichkeiten sich, je nach den Gegebenheiten vor Ort, bieten, das soll am Beispiel der Arbeit des Vereins Tierschutzprojekt Ungarn e. V. dargestellt werden.

 

Tierschutzprojekt Ungarn e. V.

Der 2006 in Wipperfürth gegründete deutsche Verein wird von Wolfgang Stephanow geführt. Die Webseite weist ordnungsgemäß ein Impressum, die Satzung des Vereins sowie den Hinweis auf den aktuellen Freistellungsbescheid aus.

Dass es sich beim Tierschutzprojekt Ungarn e. V. (nachfolgend: TPU)  um eine grundsätzlich andere Kategorie von Auslandstierschutzorganisation handelt, ist schon an dem Leitmotiv erkennbar:  „Nicht das unendliche Abtransportieren von Hunden aus Süd- und Osteuropa kann die Lösung sein“.

Was diesen Verein des Weiteren von den Schleppern unterscheidet, hat Stephanow in einem leidenschaftlichen Appell an zusammengefasst.

   
Die Bilder von TPU dokumentieren dieselben Verhältnisse wie die Fotos der Tierschlepper. Es kommt nur darauf an, welche Botschaft an den Betrachter damit verbunden wird. Es kann eben nicht die Aufforderung sein, diese hier gerade zu sehenden Hunde aus ihren gefluteten Zwinger im ungarischen Tierheim nach Deutschland zu schleppen. Die Botschaft in einem ATS, der diese Bezeichnung auch verdient, kann nur sein, die Zustände dort zu ändern.
Foto: Tierschutzprojekt Ungarn e. V., Tierheim Dereske

 

Aufgreifen aktueller Tierschutzthemen im Land

Die Unterschiede zu den Schleppervereinen sind offenbar und beim Stöbern auf der Webseite des Vereins rasch erkennbar. Bei seiner Strukturarbeit vor Ort greift der Verein aktuelle tierschutzrelevante Themen auf. So wurde im Januar 2013 in Ungarn das Chippen und Registrieren aller Hunde zur Pflicht gemacht. In Budapest wurde eine zentrale Registrierungsstelle eingerichtet, welche die Daten verwalten soll.

TPU greift diese Maßnahme sofort auf und flicht seine Tierschutzentwicklungshilfe in die ungarischen Dynamiken ein , welche diese gesetzliche Vorgabe auslöst. In einem Sondernewsletter Februar 2013, der Überschrift „Hilfe zur Selbsthilfe“ unterstellt, informiert TPU über das Projekt.

Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal dieser Tierschützer: Es wird informiert – statt polemisiert. Eine für das Verständnis wichtige Info dabei ist:

              

Es geht dem Gesetzgeber in erster Linie  nicht darum, dass ein entlaufender Hund  wieder zu seinem Besitzer zurückfindet.  Vielmehr benötigt man die statistischen Daten, weil auch die Einführung einer Hundesteuer im Gespräch ist.

Ebenso kann man durch die Registrierung des Tieres den Besitzer ausfindig machen, sollte er sein Tier absichtlich ausgesetzt haben. Und  sollte das Tier einen Schaden, z.B. einen Verkehrsunfall, verursachen, kann der registrierte Besitzer natürlich ausfindig und haftbar gemacht werden.

(Tierschutzprojekt Ungarn e. V. Sondernewsletter Februar 2013)  

              

Um an die im Land selbst erwachte Initiative sinnvolle tierschützerische Maßnahmen anzukoppeln, ist es wichtig, die Motive der Politik zu beleuchten.


Analyse statt Polemik, Hilfe statt Verleumdung

Anschließend beschreibt TPU die Folgen dieser staatlichen Maßnahme. Auch hier kommen diese auffallend professionell vorgehenden Tierschützer  ohne jede Polemik gegen die Bevölkerung aus. Stattdessen erklären sie mit rationalen Argumenten die aus Tierschutzsicht nachteiligen Folgen der Einführung der Chip- und Kastrationspflicht:

              

Seit Einführung dieser Maßnahme – und auch schon im Vorfeld – gibt es eine regelrechte Abgabewelle von Hunden in ungarischen Tierheimen und Tötungsstationen, da sich die Halter dieser Registrierungspflicht entziehen wollen oder aus wirtschaftlichen Gründen die Kosten (zwischen 20 und 28 Euro) nicht tragen können. Die Tiere werden nicht nur in Tierheimen und Tötungsstationen abgegeben, in vielen Fällen werden sie auch einfach auf der Straße „entsorgt“.

Unserer Meinung nach ist der wirtschaftliche Faktor bei vielen Hundebesitzern der eigentliche Grund. Die Arbeitslosigkeit nimmt immer mehr zu, sodass viele Menschen am Existenzminimum leben. Die zusätzlichen Kosten können sie nicht mehr aufbringen, eine Kastration ihres Tieres ist für sie überhaupt nicht zu finanzieren.
Die Übergangsfrist für das Chipen der Hunde läuft im Mai dieses Jahres aus.

Sollte der Hundebesitzer bis dahin sein Tier nicht gechipt und registriert haben, droht eine empfindliche Strafe. Tierärzte und Ämter sind verpflichtet, nicht gechipte Tiere ab diesem Zeitpunkt zu melden.

(ibid.; farbliche Hervorhebg. d. DN-Red.)  

              

Die Ungarn werden nicht verurteilt und nicht verteufelt. Hier spielt sich keiner als Moralapostel auf und bricht – aus der wohl temperierten Höhe im Wohlstandsdeutschland herab – den Stab über Hundebesitzer in einem Land, das politisch und wirtschaftlich schwer zu kämpfen hat.

Die Fakten werden sachlich festgestellt. An diese knüpft sich ein Handlungsplan:

              

Wir handeln jetzt!

Das Tierschutzprojekt Ungarn e.V. betreibt seit vielen Jahren in diesem Land effektiven Tierschutz vor Ort. Unser Ziel ist nicht das Abtransportieren der ständig steigenden „Hundeflut“. Wir wollen die Lebensumstände der Tiere vor Ort verbessern und durch permanente Kastrationen die Population von Hunden und Katzen verringern. Daher plant das Tierschutzprojekt Ungarn e.V. mit seinen Partnern im Raum Derecske/Debrecen und der freundlichen Unterstützung durch TASSO e.V., der uns hierfür die Chips kostenlos zur Verfügung stellt, folgende Aktion: Wir bieten den Hundebesitzern an, ihren Hund bei von uns genannten Tierärzten kostenlos chipen und registrieren zu lassen – unter der Bedingung, dass bei dieser Gelegenheit der Hund auch kastriert wird. Auch die Kosten der Kastration werden dann vom Tierschutzprojekt Ungarn e.V. übernommen. Wir erhoffen uns von dieser Aktion, dass sowohl die Abgabewelle als auch das unkontrollierte Vermehren der Hunde eingedämmt werden.

(ibid.; farbliche Hervorhebung d. DN-Red.)  

              


Merke auf: Hier ist von „Partnern“ im Land die Rede. Damit haben sich diese Auslandstierschützer schon die erste wichtigste Voraussetzung für den Strukturaufbau geschaffen. Und die Partner sind zahlreich, wie jeder Interessierte der TPU-Webseite entnehmen kann.

Dass eine solche Aktion in Zusammenarbeit mit TASSO e. V. sinnvoll ist, hakt Doggennetz.de unter „Sachzwang“ ab. Die Werbung für TASSO e. V. jedoch tut dieser Redaktion weh.

TPU macht den Ungarn in Reaktion auf dortige politische Impulse ein hochattraktives Angebot, das wirklich und vor Ort hilft: Den von außen gegebenen Anlass der Chippflicht kombinieren sie mit dem tierschützerischen Grundanliegen der Kastration. Phantastisch!

 

Kein Tierärztepool (mehr)

TPU ist schon eine Weile in Ungarn (und nicht nur dort) tätig und hat auch schon in der Vergangenheit Strukturen aufgebaut. Auf diese Strukturen können die deutschen Tierschützer bei ihrem vorbildlichen Chip-Kombi-Kastrationsprojekt zurückgreifen:

              

In Verhandlungen mit verschiedenen Tierärzten konnten wir Sonderkonditionen aushandeln, die befristet bis Mai Gültigkeit haben. Das Chipen, Kastrieren und Registrieren z.B. einer großen Hündin kostet somit ca. 70 Euro. Daher bitten wir um Ihre Hilfe und Unterstützung. Dauerhafter und nachhaltiger Tierschutz kann nur im Herkunftsland stattfinden. Mit jeder noch so kleinen Spende verhindern Sie unendliches Leid und das Vegetieren vieler Tiere in überfüllten Tierheimen.

(ibid.)  

              


Es sind ungarische Tierärzte, die an dieser sinnvollen Tierschutzaktion beteiligt werden. Das bindet diese sinnvoll ein und lässt sie an den Spenden deutscher Tierfreunde für Auslandstiere wirtschaftlich partizipieren. Dabei wird das Geld auch sicherlich nicht zum Fenster herausgeworfen, sondern TPU handelt einen fairen Preis für beide aus.

Chapeau!

(Hinweis: Wenn Sie dennoch auf der Webseite Aufnahmen von gewissen Tierärztepools finden, sind das Dokumente der Aber-so-was-von-Vergangenheit. Sie beweisen lediglich die Binse, dass auch Auslandstierschützer weiterlernen können. Im Gespräch mit dieser Redaktion jedenfalls lässt Stephanow keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihm der negative Effekt deutscher Tierärztepools auf die Tierärzte vor Ort vollkommen bewusst ist.)

 

Und noch viel mehr innovative Tierschutzarbeit

Stöbern Sie auf der TPU-Webseite, um einen wohltuend erleichternden Eindruck davon zu bekommen, was an sinnvollem Auslandstierschutz alles möglich ist. Da ist zum Beispiel das Projekt Szekesfehervar: TPU hat den Aufbau einer kleinen Tierklinik in einem ungarischen Tierheim finanziert. Das ermöglicht, die Tiere dort tierärztlich adäquat zu versorgen.

Im Gespräch mit der DN-Redaktion schildert Stephanow eindrücklich, wie geschickt der Verein die ungarische Mentalität nutzt, um tierschützerische Botschaften an den Mann zu bringen. Die Ungarn nämlich, so der Vereinsvorsitzende mit Landeskenntnis (!), seien sehr neugierig. Schon diese Neugierde treibe sie in das von den Deutschen auf Westniveau gehobene Tierheim, um sich dort Tierschutzarbeit nach zentraleuropäischem Standard anzusehen.

TPU versucht auch, so viel Hunde wie möglich in Ungarn zu vermitteln.

Doch auch diese Tierschützer kommen nicht ganz ohne Einfuhren nach Deutschland aus. Aber sie bilden die Ausnahme-, nicht – wie bei fast allen anderen – den Regelfall.

 

Ganz pfiffig:
Deutsche Partnerstädte bei ihrer Verantwortung packen

TPU zeigt: Mit nur etwas gutem Willen und dem Vorsatz, effiziente Tierschutzarbeit vor Ort zu leisten, bieten sich deutschen Tierschutzorganisationen Hülle und Fülle an phantasie- und wirkungsvollen Handlungsmöglichkeiten. Eine brillante Idee dabei ist es, die deutschen Partnerstädte bei ihrer Verantwortung zu packen. Das tut TPU!

Partner der ungarischen Stadt Baja etwa ist die Stadt Waiblingen. In Baja jedoch gibt es eine grauenvolle Hundefängeranlage. TPU hat sich daraufhin an die Stadt Waiblingen gewandt und auf die Missstände aufmerksam gemacht. Die Reaktion des deutschen Bürgermeisters mit den peinlichen Belehrungen zur Tonalität von Tierschützerschreiben zeigt, wie unangenehm es deutschen Politikern ist, wenn sie über Sonntagsreden hinaus auf konkrete Missstände reagieren sollen.

Solche Reaktionen belegen, dass diese aufwendige und eben nicht so spektakuläre Tierschutzarbeit nicht immer gleich von Erfolg gekrönt ist.

Noch übler erging es TPU bei seinen Bemühungen um die Dokumentation der Zustände in der Hundefängeranlage Pápa. Die Delegation der deutschen Partnerstadt Schwetzingen ließ sich bei einem zuvor angekündigtem Besuch erfolgreich und wohl auch willig einen Bären aufbinden, was die deutsche Tageszeitung dann sogleich eilfertig kolportierte. Wie jedoch Besuche von kritischen Tierschützern ohne Vorankündigung aufgenommen werden, das dokumentiert Stephanow ebenfalls.

Gerade diese beiden Fälle aus der Sparte Verantwortung deutscher Partnerstädte belegen, dass hier noch sehr viel Aufbau- und Entwicklungsarbeit notwendig ist.

Arbeit, die in den vergangenen 15 Jahren deutschen und zentraleuropäischen sogenannten Auslandstierschutzes schon längst hätte erledigt werden können!

 

Nicht spektakulär, nicht blutig, nicht emotional genug?

Stephanow weiß selbst genau, dass diese Art von professioneller Tierschutzarbeit im Ausland den meisten Spendern einfach nicht blutig, nicht spektakulär, nicht emotional genug ist. Deutsche „Tierfreunde“ und deutsche Spender wollen leidende Hunde sehen und irgendwelche blonden Prinzessinnen, die sich tränenüberströmt über sie werfen und sie abknutschen. Mühsame, kleinschrittige, auch hier immer wieder von Niederlagen gekennzeichnete Strukturaufbauarbeit vor Ort bedient diese voyeuristischen Bedürfnisse nicht.

Für die Tiere in Ungarn und anderswo steht zu hoffen, dass dieses Umdenken jetzt endlich und nach 15 Jahren verdödelter Chancen des sogenannten deutschen Auslandstierschutzes beginnt. Wenn es so viele deutsche Vereine mit einen sinnvollen Konzept wie das von TPU gäbe, wie es Schleppervereine gibt, dann wäre für die Tiere viel gewonnen!

Wenn nur ein  Bruchteil der Millionen von Spenden, welche deutsche Tierfreunde in den vergangenen 15 Jahren für den Auslandstierschutz aufgewandt haben, für den Aufbau funktionierender Strukturen im Ausland verwendet worden wären, müssten diese zwei ungarischen Hunde nicht in einem witterungsbedingt gefluteten Zwinger leben! Aber wenn das Geld der Tiere in der Vergangenheit für Ausgaben wie in Aua922 veruntreut wurden (und nach wie vor werden), ändert sich am Elend der Tiere im Ausland nichts!
Foto: Tierschutzprojekt Ungarn e. V.